Die Tafel-Initiativen: Ausgleich zwischen Mangel und Überfluss
Es ist ein gewöhnlicher Wochentag, mitten in einer geschäftigen Metropole. Beinahe scheint es, als wäre die DDR wieder auferstanden, denn bereits am frühen Morgen hat sich im Stadtzentrum eine Menschenschlange gebildet. Sie beginnt an einem unscheinbaren Gebäude. Dort gibt es nichts besonderes. Nur ganz normale Lebensmittel. Doch die Wartenden benötigen sie dringend.
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Warum es trotz Wohlstand Hunger gibt
Die oben beschriebene Szene ist keineswegs eine polemische Zuspitzung. Ähnliches passiert fast täglich überall in Deutschland. In einem der reichsten Länder der Erde gibt es Menschen, deren Einkommen nicht dafür reicht, jeden Tag eine Mahlzeit auf dem Tisch zu haben. Trotzdem werden andererseits überschüssige Lebensmittel lieber vernichtet, anstatt sie zu verschenken. Die wirtschaftlichen Gründe dafür kennt jeder halbwegs kompetente BWL-Student: Verschenkte Ware kann einen Preisverfall auslösen und macht potenzielle Kunden zu Almosenempfängern, weil der Leistungsanreiz fehlt. Doch all diese Argumente wirken reichlich fade, angesichts von Menschen, die mitten im Wohlstandsland BRD nicht einmal das elementare Grundbedürfnis Nahrung befriedigen können. Engagierte Bürger haben sich daher vorgenommen, dieses Gefälle zwischen Lebensmittelüberfluss und Hunger abzuflachen.
Die deutschen Tafel-Vereine
Eine der größten Initiativen auf diesem Gebiet sind die so genannten Tafel-Vereine. Sie wollen überschüssige Lebensmittel dort einsetzen, wo soziale Not herrscht. Jener Grundgedanke der Tafel-Vereine ist so simpel, dass unwillkürlich die Frage aufkommt, warum diese Sozialbewegung in Deutschland erst seit den 1990er Jahren existiert. Sicher, Suppenküchen und Armenspeisung gab es vermutlich schon immer. Doch eine Initiative, die nicht nur Not lindert, sondern Überfluss und Mangel gegeneinander kompensiert, war hierzulande neu. Alles begann mit einem Vortrag der damaligen Berliner Sozialsenatorin über die Lebensverhältnisse von Obdachlosen. Davon beeindruckt, beschloss eine städtische Fraueninitiative, den „Lebensmittelüberschuss“ sinnvoll an entsprechende Sozialeinrichtungen zu verteilen und orientierte sich dabei an Vorbildern aus den USA. Anfang 1993 war so die erste deutsche Tafel entstanden.
In den nächsten beiden Jahren geschah Erstaunliches. Deutschlandweit kam es zu zahlreichen weiteren Tafel-Gründungen, so dass schließlich der „Dachverband Deutsche Tafelrunde“ (heute: „Bundesverband Deutsche Tafel e. V.“) ins Leben gerufen wurde. Da offenbar enormer Bedarf bestand, setzte sich der Aufwärtstrend weiter fort. 2006 existierten republikweit bereits über 600 Tafeln, aktuell sind es fast 1000 Initiativen mit rund 75.000 Helfern. Sie arbeiten unabhängig von Konfessionen oder Parteien. Zum Teil handelt es sich dabei um eigenständige Vereine. Andere Tafeln wiederum befinden sich in Trägerschaft gemeinnütziger Organisationen.
Vor einigen Jahren begann zusätzlich zur reinen Annahme- und Ausgabetätigkeit auch das Projekt der Tafelgärten. Mit doppeltem Zweck: Einerseits erhöhte sich so die Menge der relativ sicher einkalkulierbaren Lebensmittel. Andererseits wurde Erwerbslosen dadurch eine sinnvolle Tätigkeit angeboten. Realisiert werden konnten die Tafelgärten oftmals auf Basis von arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahmen in Zusammenarbeit mit Kleingartenvereinen.
Neben eigenen Ausgabestellen beliefern die Tafelinitiativen auch Suppenküchen und andere Sozialeinrichtungen. Die meisten Mitarbeiter engagieren sich dabei ehrenamtlich. Trotz solcher Erfolgsgeschichten und einem anhaltenden Zuwachs an Spenden kann die Nachfrage derzeit nicht befriedigt werden. Die Not wächst offensichtlich schneller.
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Kritik am Tafel-Gedanken?
Dennoch hat die Arbeit der deutschen Tafeln nicht nur Freunde. Anstoß erregt vor allem die Tatsache, dass Lebensmittel verschenkt oder zu symbolischen Preisen abgegeben werden. Außerdem würden solche Projekte dazu verleiten, faul und bequem auf jegliche Anstrengung zu verzichten. Die in der Regel nicht selbst betroffenen Kritiker meinen also, die Tafelvereine förderten das Sozialschmarotzertum.
Die Realität sieht freilich anders aus. Übersehen wird zum Beispiel oft, dass die Tafel-Vereine keine Selbstbedienungsanstalten für jedermann sind. Ein Nachweis über die Bedürftigkeit ist meist erforderlich. Dennoch scheuen viele tatsächlich Notleidende aus Scham den Weg zur nächsten Tafel. Es lässt sich daher sagen: Wer dort vorspricht, hat wahrscheinlich wirklich keine andere Möglichkeit mehr, um zu überleben.
Längst ist die Hauptzielgruppe der Tafelinitiativen auch nicht mehr das Obdachlosenmilieu. Seit Gerhard Schröders Koalition aus SPD und Bündnisgrünen dem Volk die unsäglichen Hartz-Gesetze verordnete, hat Armut ein neues, vielfältiges Gesicht. Betroffen sind Alleinerziehende und Rentner ebenso wie Kinder oder Arbeitslose. Selbst einige Geringverdiener sind mittlerweile auf die Hilfe der Tafelvereine angewiesen sind. Es ist beschämend für ein reiches Industrieland, wenn Menschen hart arbeiten und ihr Verdienst dann nicht einmal für die tägliche Ernährung ausreicht. Spätestens an diesem Punkt muss jegliche Kritik verstummen, wenn sie nicht zum Zynismus werden soll.