Die Kondratieff-Zyklen
Nikolai Kondratieff entdeckte, dass sich die weltweite Wirtschaftsentwicklung in "Lange Wellen" einteilen lässt, welche unseren Lebensstandard maßgeblich beeinflussen.
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„Ich halte das Automobil für eine
vorübergehende Erscheinung. Ich setzte auf das Pferd.“ Diese ebenso
denkwürdige wie falsche Prognose soll einst Willhelm II.,
Deutschlands letzter Kaiser, erstellt haben. Er befindet sich damit
in guter Gesellschaft, denn auch für uns so selbstverständliche Dinge
wie vertonte Kinofilme, Langstreckenflieger, Radios oder
Telefone wurden einst von Fachleuten als Unsinn ohne Zukunft
abgestempelt. Solcherlei peinliche Fehlprognosen hätten vielleicht
verhindert werden können, wäre damals eine bestimmte
Gesetzmäßigkeit der Volkswirtschaft besser bekannt gewesen: Die
Kondratieff-Zyklen.
Kondratieff-Zyklen: Lange Wellen in der Wirtschaftsentwicklung
Heute ist allgemein bekannt, dass die markt- und weltwirtschaftliche Entwicklung ein stetiges Auf und Ab bildet, den sogenannten Konjunkturzyklus aus Aufschwung, Boom, Abschwung und Depression innerhalb weniger Jahre. Doch im Verlauf vieler Konjunkturzyklen ändert sich die Gewichtung der Produktsegmente, welche die zyklische Bewegung maßgeblich beeinflussen. Waren beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg der Maschinen- und Automobilbau die bedeutendsten Faktoren westlicher Volkswirtschaften, so ist seit Ende des 20. Jahrhunderts ein gewaltiger Aufschwung der Computerindustrie zu beobachten. Es existiert also ein stetiger Wandel hinsichtlich jener Branchen, welche die Spitzenposition bei Rendite und Umsatz einnehmen.
Der
1892 geborene Russe Nikolai Kondratieff (alternative Schreibweise:
Kondratjew) entdeckte in den 20er
Jahren des letzten Jahrhunderts, dass sich dieser Wandel nicht
willkürlich, sondern nach gewissen Gesetzmäßigkeiten vollzieht. Er
erstellte ein Muster der Wirtschaftsentwicklung seit Beginn der
Industrialisierung und benannte dieses als Lange Wellen. Kondratieff
starb jedoch bereits 1938 im Gefängnis als Opfer der stalinistischen Säuberungspolitik.
Seine Arbeit wurde von anderen Wirtschaftswissenschaftlern aufgegriffen und fortgesetzt, so dass heute meist von fünf Langen Wellen oder Kondratieff-Zyklen ausgegangen wird. Nach Kondratieffs Erkenntnissen umfasst eine Lange Welle ungefähr 50 Jahre. Jeder Zyklus wird durch bahnbrechende Erfindungen oder Neuerungen eingeleitet und erzeugt zunächst einen langfristigen Anstieg des allgemeinen Lebensstandards. Dies bedeutet, dass trotz konjunktureller Schwankungen das Wohlstandsniveau insgesamt langsam steigt.
Die bisherigen fünf Kondratieff-Zyklen
Hinsichtlich der genauen Datierung sowie der jeweils maßgeblichen Branchen herrscht in der Fachwelt allerdings keine völlige Übereinstimmung, denn die Kondratieff-Zyklen beschreiben naturgemäß lediglich ein grobes Muster. Die ungefähre Einteilung von Kondratieffs Langen Wellen stellt sich folgendermaßen dar:
1. Zyklus: Ca. 1780 bis ca. 1840. Die von England ausgehende Frühindustrialisierung, begünstigt durch die Erfindung der Dampfmaschine.
2. Zyklus: Ca. 1840 bis ca.1890. Aufschwung der Stahlindustrie durch bessere Verfahren der Eisenverhüttung (1856 Erfindung der „Bessemer-Birne“). Eine weitere Schlüsselbranche stellte in dieser Epoche die Eisenbahn als zunehmend wichtiges Transportmittel dar. In Mitteleuropa bewirkten solche Entwicklungen die sogenannte Gründerzeit.
3. Zyklus: Ca. 1890 bis ca.1940. Chemische Verfahren und Gemische sowie die Elektrifizierung sorgen durch brauchbare Erfindungen für eine stetige Modernisierung des Alltags. Das Automobil wird erfunden, die elektrische Beleuchtung schreitet voran, und der Mensch verwirklicht den Traum vom Fliegen.
4. Zyklus: Ca. 1940 bis ca. 1990. Elektronische Steuer- und Regeltechnik findet in der Entwicklung des Computers ihre Erfüllung. Die Kernkraft wird entdeckt und nutzbar gemacht. Kunststoffe ermöglichen leichte und haltbare Produkte. All das dient als Voraussetzung für den Raketenbau, welcher durch die Raumfahrt seine Krönung erlebt. Zudem wird das Auto endgültig zum Massenprodukt.
5. Zyklus: Ungefähr ab 1990. Die Kommunikation des Menschen verändert sich durch Internet und Multimedia. In Landwirtschaft und Medizin eröffnet die Gentechnik neue Möglichkeiten.
Über die Ausgestaltung einer sechsten
Kondratieff-Welle kann heute, während der fünften Welle, natürlich nur
spekuliert werden. Sollte sich das bisherige Muster
wiederholen, hätten wir bis zum nächsten Zyklus auch noch etwas Zeit.
Die Schlüsseltechnologien der sechsten Langen Welle sind uns bisher
vielleicht gar nicht bekannt. Dennoch gibt es natürlich
bereits Mutmaßungen. So verspricht man sich beispielsweise von der
Biochemie und von künstlicher Intelligenz neue Impulse und Problemlösungen.
Bücher zum Thema
Der sechste Kondratieff Kondratieffs Gedankenwelt
Kritik an Kondratieffs Theorie der Langen Wellen
Die Existenz der Langen Wellen wird von einigen Wirtschaftswissenschaftlern allerdings bestritten oder zumindest kontrovers diskutiert. Aufgrund der recht pauschalen und groben Zyklenbeschreibungen bemängeln Kritiker, dass die Eckdaten der Zyklen willkürlich ausgesucht wurden. Durch eine solch beliebige Auswahl könne man allerdings jede gewünschte „Gesetzmäßigkeit“ entwerfen. Die graphische Darstellung als Lange Wellen sei somit lediglich ein konstruiertes Ergebnis. Klassische Darstellungen der Kondratieff-Zyklen weisen in der Tat eine merkwürdige Eigenheiten auf:
- Als X-Achse dient der Zeitstrahl ab 1780.
- Die Y-Achse hingegen wird durch keinerlei Maßeinheit definiert.
- Dies bedeutet, dass die Auf- und Abwärtsbewegungen der Langen Wellen keinen Rückschluss auf Kennzahlen wie Bruttoinlandsprodukte, Weltwirtschaftsindex, Umsatzzahlen des Welthandels usw. zulassen.
- Damit ist der dargestellte Verlauf der Langen Wellen durch konkrete Zahlen nur eingeschränkt überprüfbar. Er könnte also teilweise auch auf subjektiven Eindrücken und historischen Betrachtungen basieren.
Wird es einen sechsten Kondratieff-Zyklus geben?
Doch selbst bei kritikloser Akzeptanz der Langen Wellen ist nicht klar, ob es überhaupt einen sechsten Kondratieff-Zyklus geben wird. Bisher leitet sich Gesetzmäßigkeit der Langen Wellen überwiegend aus Entwicklungen der Vergangenheit ab. Diese sind jedoch kein Garant für zukünftige Abläufe der Weltwirtschaft. Zudem lässt Kondratieffs Theorie die wirtschaftliche Entwicklung vor Beginn seiner Zyklen außer Acht, denn die Langen Wellen beschreiben lediglich den Verlauf der industrialisierten Weltwirtschaft. Ein sechster Kondratieff-Zyklus würde also vermutlich ausbleiben, falls die Industrie ihre Bedeutung für die globale Wirtschaft verliert. Auslöser eines solchen Szenarios könnten beispielsweise eine weltweite Rückkehr zu einfacher, stark ökologischer Lebensweise sein oder das Fehlen neuer, zukunftsträchtiger Erfindungen und Technologien.