Das Turiner Grabtuch: Mysterium oder Fälschung?
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28. Mai 1898, gegen Mitternacht. In der Turiner Kathedrale hat der Amateurfotograf Secondo Pia soeben das angebliche Grabtuch Christi fotografiert. Doch nun packt ihn nacktes Entsetzen. Auf der Fotoplatte im Entwicklerbad tritt kein Negativ, sondern ein fotografisches Positiv hervor. Ein Gesicht und ein Körper sind deutlich erkennbar. Es gibt nur eine Erklärung: Die schemenhaften Umrisse eines Menschen auf dem Tuch stellen bereits selbst eine Art Negativbild dar!
Äußerliche Details des Grabtuchs
Die umstrittene Reliquie ist ein elfenbeinfarbenes, 4,36 m x 1,10 m großes Leinentuch. Am linken Rand wurde ein acht Zentimeter breiter Leinenstreifen befestigt. Seit einem Brand im Jahr 1532 trägt das Tuch Beschädigungen durch Feuer, geschmolzenes Silber und Schürhaken. Im Frühjahr 1997 entging es knapp der Vernichtung durch einen weiteren Brand. Schwach sichtbar sind Vorder- und Rückansicht eines Mannes. Nach dem Volksglauben handelt es sich um die Abdrücke von Jesus.
Seine gesicherte Existenz kann ab 1356 belegt werden. Es befand sich in Privatbesitz der französischen Familie Charney und wurde später veräußert. Seit 1578 wird es in Turin aufbewahrt. Für die Zeit vor 1356 gibt es nur Vermutungen. Unter den zahlreichen Leichentuch-Reliquien des Mittelalters gab es jedoch zwei Exemplare, welche mit dem Turiner Grabtuch identisch sein könnten:
Das Schweißtuch der Veronika und das Tuch von Edessa
Nach nicht biblischer Überlieferung wurde Jesus durch eine Veronika der Schweiß vom Gesicht gewischt. Der Abdruck des Erlösers soll auf ihrem Tuch haften geblieben sein. Die Legende könnte auf einer Konsonantenverwechslung beruhen: „vera ikon“ bedeutet zu deutsch „wahres Bild“.
Ähnliches wird vom sogenannten Edessa-Tuch berichtet. Auch auf ihm war angeblich das Gesicht Christi zu sehen. Mit seinem Auftauchen im 6. Jahrhundert änderten sich plötzlich die Gesichtszüge aller Jesus-Darstellungen. Nach einer urkundlichen Erwähnung verhalf das Tuch der Stadt Edessa 544 zum Sieg über die Perser. 944 wurde es nach Konstantinopel überführt. Als Kreuzfahrer die Stadt 1204 plünderten, blieb nur die Kirche, in welcher das Tuch lagerte, unangetastet.
Obwohl bei diesen Tüchern nur ein Gesicht erwähnt wird, könnten sie mit dem Turiner Grabtuch identisch sein. Ein griechischer Text behauptet, Jesus trocknete sein Gesicht mit einem „Tetradiplon“ ab, was wörtlich übersetzt heißt: vier-zweifältig. Halbiert man nun das Turiner Grabtuch durch Falten viermal, liegt das Gesicht des Mannes obenauf. So soll einst auch das Edessa-Tuch in einem Rahmen aufgefunden worden sein...
Wie entstand das Abbild des Mannes?
Der Verdacht, das Bild sei schlicht ein meisterhaftes Gemälde, wurde widerlegt, denn das Grabtuch weist 3D-Informationen auf. Dies bedeutet, dass eine dreidimensionale Form aus verschiedenen Schattierungen ermittelt werden kann. Das ist nur bei Abdrücken oder Fotografien möglich. Zur Entstehungsgeschichte des Tuches gibt es jedoch auch skurrile Alternativen:
- Die Atomblitz-Theorie. Bei Christi Auferstehung habe dessen göttliche Energie einen Schatten in das Tuch gebrannt. Allerdings wäre bei solchen (der Hiroshima-Bombe vergleichbaren) Energiemengen halb Palästina verschmort! Zudem hätte der Blitz von außerhalb kommen müssen, denn eine Lichtquelle produziert niemals ihren eigenen Schatten.
- Mystisch erscheint auch die Idee der Psychokinese. Ihre Verfechter glauben, dass das Bild durch Gedankenkraft auf das Tuch übertragen wurde und verweisen auf spektakuläre Parallelen aus dem 20. Jahrhundert.
Überwiegend wird heute jedoch angenommen, dass die Abbildung durch Körperkontakt mit dem Tuch entstanden ist. Körpersekrete und Salböle sollen das Bild verursacht haben.
Das Turiner Grabtuch: Eine Fälschung?
1988 wurden Gewebeproben durch die Radiokarbonmethode getestet. Anschließend erklärte der Vatikan das Tuch zu einer mittelalterlichen Fälschung. Allerdings gab es beim Test Ungereimtheiten. Auf dem Dokumentationsvideo fehlt die Versiegelung der Testbehälter. Zudem befanden sich an den Probefasern Spuren des mittelalterlichen Brandes. Da der Radiokarbontest auf organischem Material basiert, ist auch denkbar, dass Anhaftungen anderer Zeiten die Proben verfälschten. Das Rätsel um die Echtheit des Leichentuchs bleibt bisher also ungelöst.
Kritisiert werden vor allem die Körperproportionen auf dem Tuch. Der Kopf wirkt abgetrennt und zu klein, die Ohren fehlen, die Stirn ist verkürzt. Vorder- und Rückansicht sind unterschiedlich groß. Eine Erklärung könnte sein, dass durch Falten im Tuch die Relationen verfälscht wurden. Der Abdruck einer Fußsohle lässt zudem vermuten, dass der Mann mit angewinkelten Beinen und überstrecktem Kopf im Leichentuch lag.
Seit Jahrzehnten gibt es deshalb immer wieder neue wissenschaftliche Untersuchungen aus vielen Fachgebieten: Die Blutspuren, die Gewebebeschaffenheit, verschiedene Anhaftungen, die Frage eventueller Fälschungstechniken, fotografische Aspekte, anatomische Erkenntnisse. Neben diesen Forschungen am eigentlichen Tuch wird zudem gern versucht, an den Untersuchungsmethoden anderer Forscher Fehler zu finden, um Ungereimtheiten der eigenen Theorie zu erklären…
Die Daten zum Tuch sind auf diese Weise unüberschaubar vielfältig geworden. Allen Untersuchungen gemein scheint allerdings zu sein, dass sie jeweils unterschiedlich interpretiert werden können. Grob verallgemeinert dreht sich Debatte um das Turiner Grabtuch aber gefühlt inzwischen weniger um den Beweis einer Fälschung oder künstlerischen Darstellung, sondern eher um das Wann, Wo und Wer eines echten Abdrucks. Diskutiert wird also die Möglichkeit, dass tatsächlich ein realer Mensch in das Tuch eingewickelt war.
Sieht man auf dem Grabtuch Jesus?
Es gibt natürlich keinen endgültigen Beweis, jedoch einige Fakten, welche von Gläubigen angeführt werden, für die das Tuch ein Abbild des Erlösers zeigt:
- Dem Gekreuzigten wurden unüblicherweise nicht die Beine gebrochen (vgl. Joh. 19, V.33). Alle anderen in der Bibel erwähnten Verletzungen sind auffindbar.
- Die Art der Kreuzigung ist historisch richtig: Auf Gemälden wurde Christus meist mit Nägeln in Händen und Füßen dargestellt. Wie auch auf dem Tuch zu sehen, wurden die Nägel jedoch durch Handgelenke und Fersen geschlagen.
- Der Verlauf der Blutspuren ist anatomisch korrekt oder zumindest denkbar.
- Der Mann ist unbekleidet, was wie in der Bibel auf ein provisorisches Begräbnis hinweist.
- Drei Evangelien erwähnen ein Grabtuch. Nur das Johannesevangelium spricht von Binden, allerdings ebenfalls aus Leinen.
- Der Mann trägt einen Bart. Dies war damals fast nur bei den Juden Sitte.
- Die rechte Schulter ist niedriger – ein Kennzeichen der Zimmerleute jener Zeit. Jesus arbeitete möglicherweise als Zimmermann.
- Es konnten Pollen festgestellt werden, welche eindeutig aus Palästina stammen.
Merkwürdige Theorien zum Turiner Grabtuch
Verschwörungstheoretiker aus aller Welt zieht das Tuch nahezu magisch an. Deren Thesen lesen sich dann ungefähr so:
- Das Tuch beweist, dass Jesus im Koma gelegen hat und somit nicht vom Tod auferstanden ist. Damit würde die christliche Erlösungslehre zusammenbrechen. Deshalb hat der Vatikan das Grabtuch zur Fälschung erklärt.
- Das Turiner Grabtuch ist der Heilige Gral, also das Gefäß mit Christi Blut.
- Leonardo da Vinci hat heimlich die Fotografie erfunden, einen Toten gekreuzigt und auf dem Tuch eine Fotomontage produziert.
Diese Verschwörungstheorien bemühen häufig die üblichen Verdächtigen: Die angebliche Geheimgesellschaft „Prieure de Sion“, den französischen Dorfpfarrer Berenger Sauniere, den Vatikan. Vor allem aber die Tempelritter. Immerhin gehörte das Tuch einst der Familie Charney, welcher ein hochrangiger Templer entstammte. Allen Thesen ist gemein, dass sie bestechend einleuchtende Erklärungen liefern, im Detail aber schwächeln.
Zweifelsohne ist das Turiner Grabtuch ein faszinierendes Rätsel. Sicher scheint nur, dass in dem Tuch wirklich ein Gekreuzigter lag. Seine Identität bleibt verborgen, bietet aber Stoff für Spekulationen. Das ist auch gut so, denn erst Mysterien machen trockene Wissenschaft auch für Laien interessant.