Die große Enttäuschung von 1844

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Kirchengeschichtlich betrachtet, war die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt von einem weltweiten Niedergang der religiösen Ernsthaftigkeit. Obwohl im Schulunterricht weiterhin christliches Gedankengut gelehrt wurde, betrachtete man die biblischen Texte zunehmend als unverbindliche Verhaltensregeln in märchenhafter Verpackung. Auch der wöchentliche Kirchgang wandelte sich ebenso wie Taufe oder Konfirmation zur rein gesellschaftlichen Tradition.

Dennoch gab es auch in diesen Zeiten ernsthaft gläubige Menschen, welche die biblischen Aussagen wörtlich nahmen. Sie wurden oft belächelt, erlitten in einigen Fällen jedoch auch Unterdrückung und Verfolgung. In Deutschland erzeugte dieser Umstand im Jahr 1838 beispielsweise die spektakuläre Emigration von rund 800 sächsischen Lutheranern nach Amerika.

Auch dort hatten zu diesem Zeitpunkt einige Christen begonnen, die Bibel sorgfältiger und intensiver zu studieren. Historisch gesehen wird ihr Wirken als zweite von drei großen „Erweckungsbewegungen“ eingestuft. Zu den zentralen Figuren dieses geistlichen Aufbruchs sollte bald auch ein schlichter Farmer gehören.

Dieser hieß William Miller und begann 1831 als Prediger unter den Baptisten zu wirken. Der damals 49 Jährige war überzeugt, durch intensives Bibelstudium auf den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi gestoßen zu sein. Seine Erkenntnisse beruhten vor allem auf Angaben aus dem prophetischen Buch Daniel. Dort werden die Zeiträume „70 Wochen“ und 2300 „Abende und Morgen“ benannt, nach deren Ablauf bestimmte Ereignisse eintreten sollen. William Miller nahm nun folgende (hier vereinfacht wiedergegebene) Berechnung vor:

*Die Formulierung „Abende und Morgen“ stellt die jüdische Bezeichnung eines Tages dar.

*Biblische Zeitangaben in der Prophetie unterliegen nach den Büchern 4. Mose 14,34 sowie Heskiel 4, 4-6 dem Jahr-Tag-Prinzip. Dies bedeutet: Ein Tag ist in Wirklichkeit ein Jahr.

*Das heißt, die Angaben im Buch Daniel bedeuten 490 Jahre (70 „Wochen“ = 70 x 7 „Tage“) sowie 2300 Jahre.

*Nach dem Buch Daniel soll nach diesen 2300 Jahren das Tempelheiligtum wieder geweiht werden. Es lag also nahe, als Ausgangspunkt der Berechnungen den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels zu wählen. Der endgültige Befehl dazu erging im Jahr 457 v. Chr. durch einen persischen König.

* Für das Ende der 70 Wochen wiederum sagt das Daniel-Buch in Kapitel 9 die Kreuzigung des Erlösers voraus.

*Addiert man nun zum Jahr 457 v. Chr. die 70 Wochen (also 490 Jahre), gelangt man in das Jahr 33 n. Chr., das vermutliche Jahr der Kreuzigung Christi. Die prophetisch vorhergesagten 70 Wochen schienen somit entschlüsselt zu sein.

* Von den ursprünglichen 2300 Jahren sind bis dahin also 490 Jahre vergangen. Es verbleiben 1810 Jahre. Zählt man diese zum Jahr 33 n. Chr. hinzu, ergibt sich das Jahr 1843, in welchem die Wiederkunft von Jesus Christus zu erwarten ist.

Einige Mitarbeiter von William Miller machten sich nun daran, einen genauen Termin zu bestimmen. Der Prediger selbst lehnte eine exakte Datumsangabe jedoch ab. Aufgrund jüdisch-kalendarischer Besonderheiten, unklarer historischer Umstände sowie weiterer Bibeltexte errechnete man schließlich nach mehreren Änderungen, dass Jesus am 22. Oktober 1844 wiederkehren und seine Friedensreich aufrichten werde. Da dieser Zeitpunkt recht nahe lag, erlangte die Botschaft eine ungeheuere Popularität. So entwickelte sich recht rasch die sogenannte Miller-Bewegung, deren Mitgliederzahl im Jahr 1844 auf rund 100 000 Gläubige geschätzt wurde. Die allgemein als Milleriten bezeichneten Anhänger des Predigers handelten konsequent, als der fragliche Termin näher rückte. Sie veräußerten angeblich ihre gesamte Habe und vernachlässigten ihre Felder sowie andere wichtige Arbeiten. Alles war zweitrangig geworden, denn bald würde Jesus ihnen ja eine bessere Welt bereiten.

Die große Enttäuschung und ein Neuanfang

Am 22. Oktober versammelten sich die Gläubigen und erwarteten Christi Wiederkunft. Auf welche Weise die Milleriten den Tag genau verbrachten, scheint jedoch unklar zu sein, denn die Gegner der Miller-Bewegung brachten später dazu allerhand spöttische Gerüchte in Umlauf. Gesichert ist nur: Der 22. Oktober 1844 verstrich ereignislos. Spätestens am Ende der darauf folgenden Nacht wurde auch den letzten Milleriten klar, dass sie sich geirrt hatten. Neben der tiefen Enttäuschung mussten die Gläubigen nun auch noch Spott und Häme ihrer Mitmenschen ertragen. Die Millerbewegung zerfiel daraufhin. Einige Mitglieder errechneten zwar (natürlich vergeblich) neue Termine, andere wandten sich jedoch gänzlich vom Christentum ab. William Miller selbst blieb der Baptistenkirche allerdings treu und glaubte die verbleibenden fünf Jahre seines Lebens weiterhin an die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi.

Lediglich rund 20 Mitglieder der gescheiterten Erweckungsbewegung resignierten nicht und zogen Lehren aus ihrer Enttäuschung. Sie erkannten, dass ihre Berechnungen zwar weitgehend richtig waren. Allerdings hatte man sich in dem angekündigten Ereignis am Ende der 2300 Jahre geirrt, welches heute von verschiedenen Religionsgemeinschaften als Reinigung des himmlischen Heiligtums sowie als Beginn des göttlichen Untersuchungsgerichts gedeutet wird.

Dass dieses Ereignis jedoch keinesfalls die Wiederkunft Christi sein konnte, war den Milleriten erstaunlicherweise entgangen. Trotz ihres intensiven Bibelstudiums hatten sie einen Satz aus Matthäus 24,36 übersehen. Jesus Christus selbst sagt darin über seine Wiederkunft als Sohn Gottes: „Von dem Tag aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.“ (Luther-Bibel, revidierte Fassung 1984)

                                                         
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